Denkmal Moorsoldaten
Das "Lied der Moorsoldaten"
Ein Streifzug durch seine Geschichte und Gegenwart
von Fietje Ausländer
Es ist keine neue Feststellung, dass der deutsche Faschismus die Entstehung einer beeindruckenden, gegen ihn gerichteten Liedkultur befördert hat. Oder anders formuliert: Hätte es die Verbrechen des NS-Regimes nicht gegeben, würde es diesen Teil der Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts auch nicht geben. Ohne den jüdischen Ghettoaufstand in Warschau kein „Sog nit keynmol“ von Hirsh Glik, ohne das Konzentrationslager Dachau kein „Dachaulied“ von Jura Soyfer und Herbert Zipper. Die Auflistung könnte fast endlos so weitergehen ...
Keines der vielen in den nationalsozialistischen Konzentrations-, Ghetto- und Vernichtungslagern entstandenen Lieder hat allerdings eine solche Popularität erfahren wie das „Lied der Moorsoldaten“ aus dem KZ Börgermoor, wo es im Sommer 1933 seine Uraufführung erlebte. Einer seiner Schöpfer war der Gedichte schreibende Bergmann Johann Esser (1896-1971) und damit einer derjenigen, an die das neue "Moorsoldaten"-Denkmal in Moers-Meerbeck erinnert. Wie ist das Lied entstanden? Wie konnte es sich zwischen 1933 und 1945 derart schnell und international verbreiten, dass es heute in vielen Sprachen gesungen wird? Wie ging es nach dem Ende von Faschismus und Krieg mit dem Lied weiter und wie wird es heute rezipiert und erinnert? Das neue Denkmal lädt dazu ein, diese Fragen neu zu stellen und die unzähligen Spuren des Lieds neu in den Blick zu nehmen.
Als Schöpfer des Lagerlieds, das unter den Titeln „Lied der Moorsoldaten“ oder kurz „Die Moorsoldaten“ populär werden sollte, gelten neben Johann Esser Wolfgang Langhoff und Rudolf (Rudi) Goguel (1908-1976). Allesamt Mitglieder der KPD waren sie seit dem 1. August im Lager. Folgt man den zahlreichen Quellen zur Liedgenese, hatte Langhoff den von ihm bei Esser angefragten und von diesem vorgelegten Text noch leicht überarbeitet, Goguel, kaufmännischer Angestellter mit musikalischer Vorbildung, die Melodie dazu komponiert. Überliefert ist die ergänzende Erzählung, dass noch weitere Mithäftlinge beteiligt waren, indem sie mit Vorschlägen inhaltlich Zuarbeit leisteten. [3] Offiziell wurde das Lied bald verboten, als Lager- und Freiheitshymne hatte es sich da allerdings längst in den Herzen und Köpfen der Häftlinge festgesetzt. Sein Weg hinaus aus dem Lager, schließlich um die halbe Welt war nicht mehr aufzuhalten.
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[1] Zur Bedeutung des „Zirkus Konzentrazani“ vgl. ausführlich Guido Fackler: „Des Lagers Stimme“ – Musik im KZ. Alltag und Häftlingskultur in den Konzentrationslagern 1933 bis 1936. Mit einer Darstellung der weiteren Entwicklung bis 1945 und einer Biblio-/Mediographie, Bremen 2000 (= DIZ-Schriften, Band 11), S. 213-224.
[2] Zitiert nach Hanna Eggerath: „Deine Kraft mußt Du behalten ...“ Briefe eines jungen Paares zwischen Gefängnis und Konzentrationslager 1933. Bearbeitet von Andrea Kramp und Heidi Sack in Zusammenarbeit mit Astrid Wolters. Herausgegeben vom Förderkreis der Mahn- und Gedenkstätte der Landeshauptstadt Düsseldorf, Düsseldorf 2010, S.130-131.
[3] Johann Esser, was jahrzehntelang nur einem kleineren Kreis bekannt war, hat zeitlebens Gedichte geschrieben. Sein Nachlass umfasst rund 7.000 Texte, von denen 2023 eine erste Auswahl publiziert worden ist (Johann Esser: Der Spatz am Gitter. Ausgewählte Gedichte. Herausgegeben von Fritz Burger, Patrick Dollas, Jutta Esser und Ulrich Hecker, Moers 2023). Sie nähren den Gedanken, dass Esser für das Lied eigentlich keine Hilfe brauchte. Eines seiner Nachkriegsgedichte trägt jedenfalls den selbstbewussten Titel „Die Verse hat ein Kumpel geschrieben“ (ebd., S. 85).
Was die Propaganda „Kultivierung“ nennt, der Abbau von Torf, das Umschichten des Moorbodens, dessen Preparierung für die Landwirtschaft und neue Siedler, der Bau von Wegen, Straßen oder Kanälen, bedeutet für die Gefangenen schwere Zwangsarbeit mit dem Spaten. Doch der Arbeitsterror ist nur die eine Seite des Häftlingsalltags im Moor, hinzu kommen die Verhältnisse in den Lagern selbst: Den eingesperrten Kommunisten, Sozialdemokraten und anderen Nazigegnern stehen unberechenbare, ideologisch aufgehetzte Wachmänner gegenüber, die mit Spott, Schikanen, Demütigungen, militärischem Drill und exzessiven Gewaltausbrüchen das Lager für die Häftlinge zu einem Ort permanenter Unsicherheit und Bedrohung, der Ohnmacht und wachsender Niedergeschlagenheit machen. Mit dem „Zirkus Konzentrazani“ am 27. August 1933, einem von der Lagerleitung genehmigten Kulturprogramm, die sich davon einen unterhaltsamen Sonntagnachmittag verspricht, reagieren die Gefangenen des Lagers Börgermoor auf dieses Ausgeliefertsein.
Der KZ-Zirkus, inszeniert vom Schauspieler Wolfgang Langhoff (1901-1966), ist ein Akt der kurzzeitigen kollektiven Selbstermächtigung der Eingesperrten, die sich selbst „Moorsoldaten“ nennen. Er ist durchsetzt mit vielen ironischen Anspielungen auf das Lagerleben und soll so den Geschundenen ihre kulturelle Überlegenheit demonstrieren, ihnen zugleich Zuversicht und Selbstvertrauen geben und nicht zuletzt für ein paar Stunden vom tristen und gewalttätigen Alltag im Lager ablenken.
Höhepunkt der Darbietungen ist die Premiere des aus sechs Strophen bestehenden „Lagerlieds von Börgermoor“ bzw „Börgermoorlieds“, vorgetragen von einem Gefangenenchor. Von Strophe zu Strophe immer mehr, entfaltet es mit seiner emotionalen Unmittelbarkeit, ergreifenden Schlichtheit, erzählerischen Dramaturgie, eingängigen Melodie und universellen Botschaft eine enorme Wirkung auf die zuhörenden Kameraden. Beschrieben werden im Text die Umgebung des Lagers, die Härte und Eintönigkeit der mit einfachstem Gerät durchgeführten Moorarbeiten, der immer gleiche Tagesablauf, die schmerzliche Sehnsucht nach der Familie und die lebensbedrohlichen Haftbedingungen, kulminierend in der sechsten Strophe, in der die Hoffnung auf ein Ende der Gefangenschaft zum Ausdruck kommt, die aber zugleich als generelle Zukunftserwartung verstanden werden kann: das Ende der Naziherrschaft. [1] All das passiert im Beisein des Kommandanten, vor den Augen der Wachmänner und fast 1.000 Gefangen: „Sonntag war hier großer Zirkus! Konzentrazani (...) der schönste Tag seit 6 Monaten!“, schreibt Eugen Eggerath (1905-1978) am 30. August 1933 an seine Frau Mathilde, die zur selben Zeit im Düsseldorfer Gefängnis „Ulmer Höh“ festgehalten wird. Erst anhand seines Briefes, den ihre Tochter Hanna Eggerath Ende der 1990er-Jahre zusammen mit anderen aus dem Nachlass ihrer Eltern im Hinblick auf eine Publizierung auch dem Verfasser zeigte, ließ sich endgültig genau datieren, wann das Lied seine Uraufführung erlebte. [2]
Zu einem erklärten Hauptziel der Nationalsozialisten auf dem Weg zur unumkehrbaren innenpolitischen Herrschaftssicherung gehörte die Zerschlagung der organisierten Arbeiterbewegung und ihres Umfeldes. Vier Wochen nach der Ernennung Adolf Hitlers zum neuen Reichskanzler wird mit und nach dem Brand des Reichstagsgebäudes in der Nacht vom 27. auf den 28. Februar 1933 aus politischer Programmatik terroristische politische Praxis. Zu Zehntausenden werden in der Folge Kommunisten, Sozialdemokraten, Gewerkschaftsmitglieder, Intellektuelle und weitere der Opposition zugerechnete Personen verhaftet und verschleppt. Juristische Grundlage der Massenverfolgungen bildet die am 28. Februar erlassene „Verordnung des Reichspräsidenten (…) zum Schutz von Volk und Staat zur Abwehr kommunistischer staatsgefährdender Gewaltakte“, unterzeichnet vom Reichspräsidenten Paul von Hindenburg, Hitler, Innenminister Wilhelm Frick und Justizminister Franz Gürtner. Sie setzt elementare Grundrechte, etwa das Recht der freien Meinungsäußerung und die Pressefreiheit, endgültig außer Kraft und enthält im Kern die Befugnis, Personen ohne Gerichtsverfahren und auf unbestimmte Zeit in „Schutzhaft“ zu nehmen. Sie ist gewissermaßen das Gründungsdokument des neuen Staates.
Mit der schnell wachsenden Zahl der Verhafteten kommt es ab März 1933 im gesamten Reichsgebiet zur Einrichtung von Folterstätten, „Schutzhaft“-Abteilungen in Polizei- und Justizgefängnissen sowie einer Vielzahl von Konzentrationslagern. Letztere wie Dachau, Osthofen, Oranienburg, Breitenau, Sonnenburg, Moringen, Kemna, Sachsenburg oder Lichtenburg befinden sich in stillgelegten Fabriken und Betrieben, Burg- und Schlossanlagen, Zuchthäusern oder sogenannten „Arbeitsanstalten“, selbst ein Schiff und ein ehemaliges Kloster dienen diesem Zweck, kurz: es werden Räumlichkeiten benutzt, die schon vorhanden sind.
Die ersten Konzentrationslager in Holzbarackenbauweise entstehen in den entlegenen Moor- und Ödlandgebieten des Emslandes. Bereits ab März 1933 laufen Gespräche und Planungen zwischen dem Innenministerium des Landes Preußen, zu dem das Emsland damals gehörte, und den Behörden in der Region, die von Anfang an den Lagern vor der Haustür sehr wohlwollend gegenüberstehen. Fertiggestellt werden 1933 vier Konzentrationslager mit einer Belegungskapazität für 4.000 „Schutzhäftlinge“: Börgermoor, das Doppellager Esterwegen und Neusustrum.
„Ein großer Teil der Häftlinge wird Kultivierungs- und Straßenarbeiten zu leisten haben“, heißt es am 28. Juni 1933 im „Katholischen Volksboten“ über das „neue Konzentrationslager“ Börgermoor. Die im emsländischen Meppen erscheinende Zeitung verspricht der Armutsregion im Nordwesten des Deutschen Reiches eine „große Zukunft im volkswirtschaftlichen Sinne“, will heißen: ein besseres Leben für die ansässige Bevölkerung mittels der Ausbeutung der Arbeitskraft von KZ-Häftlingen; angekündigt werden 1.000 „Marxisten aus dem Ruhrgebiet“.
Uraufführung 1933
Durch seine Auftritte und Liederbücher macht Busch das „Lied der Moorsoldaten“ zu einem der zentralen Lieder der Internationalen Brigaden. Parallel forciert der Sänger eine Platteneinspielung einzelner Lieder, Ende 1937 beginnen die Aufnahmen in Barcelona. Mit dabei sind Interbrigadisten, bezeichnet als „Chor der 11. Brigade“. Da die Stadt bombardiert wird, kommt es immer wieder zu Unterbrechungen. Im Juni 1938 liegt, verteilt auf drei Schellackplatten, endlich das sechs Lieder umfassende Album vor, darunter seine heute als klassisch zu bezeichnende, dreistrophige Aufnahme des „Lieds der Moorsoldaten“ in der Bearbeitung von Hanns Eisler, dessen Name auf dem Etikett der betreffenden Plattenseite allerdings fehlt, zu lesen ist der Hinweis „aus einem deutschen Konzentrationslager“.
Wie Busch hält sich auch der afroamerikanische Sänger und Schauspieler Paul Robeson (1898-1976) in Spanien auf, um für die Brigadisten zu singen. Er intoniert das Lied bereits in der englischen Version von Jerome. Begleitet vom Pianisten Lawrence Brown (1893-1973), mit dem er eng zusammenarbeitet und zeitlebens befreundet bleibt, nimmt er die „Peat Bog Soldiers“ in New York schließlich auch auf Platte auf, wobei er die letzte Strophe zusätzlich in der deutschen Textfassung vorträgt. [10]
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[4] Einen wunderbaren Überblick zu 14 aus dem Lager überlieferten Liedblättern gibt Ewald Mescher: Blumen vor der Hölle. Lager I - Börgermoor. Konzentrations-, Strafgefangenenlager und Wehrmachtsuntersuchungsgefängnis 1933-1945. Mit einem Vorwort von Keno Mescher, Surwold 2024, S. 120-140.
[5] Vermutlich um sie durch seine Publikation nicht zu gefährden, tauchen die Namen Esser und Goguel bei Langhoff nicht auf. Zur Bedeutung seines Buchs vgl. Frank Bajohr: Wolfgang Langhoff: Die Moorsoldaten. 13 Monate Konzentrationslager. Unpolitischer Tatsachenbericht (1935). In: HolocaustZeugnisLiteratur. 20 Werke wieder gelesen. Herausgegeben von Markus Roth und Sascha Feuchert, Göttingen 2018, S. 30-41.
[6] In allen Übersetzungen des Buches ist natürlich auch der Text des „Moorsoldatenlieds“ in die jeweilige Sprache übertragen worden, wobei offenbar mal mehr wie in der niederländischen Ausgabe „De Veensoldaten“ in der Übersetzung von Nico Rost (1896-1967), mal weniger die Singbarkeit im Vordergrund stand. Was die Ausgabe für den britischen und US-amerikanischen Buchmarkt betrifft, fällt zudem auf, dass die Übersetzerin Lilo Linke (1906-1963) nicht alle Strophen des deutschsprachigen Originals übertragen hat.
[7] Die Reihenfolge der 6 Liedstrophen ist in den überlieferten Liedblättern und in anderen Quellen nicht einheitlich. Nimmt man etwa Langhoffs Buch „Die Moorsoldaten“ oder das Liedblatt von Hanns Kralik als Vergleich, handelt es sich bei der Version von Eisler und Busch um die Strophen 1, 5 und 6. Zu Eislers Bearbeitung des Lieds siehe ausführlicher Fackler (wie Anm. 1), S. 258-260.
[8] Zitiert nach: Günter Agde: Kämpfer. Biographie eines Films und seiner Macher, Berlin 2001, S. 42.
[9] Siehe ausführlich: Peter Deeg (unter Mitarbeit von Carola Schramm und Christof Kugler): In dem spanischen Land. Die fünf Auflagen des Spanienliederbuchs (1937-1938). In: Eisler-Mitteilungen 62, 23. Jg., Oktober 2016, S. 32-35.
[10] In der französischen Adaption „Chant des Marais“ findet das Lied während des Zweiten Weltkriegs Eingang in den Liederkanon der Résistance. Zu den bekannteren internationalen Liedfassungen gehören außerdem die italienische („Il Canto dei Deportati“) und niederländische Adaptionen („De Veensoldaten“, „De Moerbrigade“).
Die Reise führt Eisler kreuz und quer durchs Land. Selbst kein großer Sänger begleitet er bei seinen Auftritten den jungen jüdischen Bariton Mordecai Bauman (1912-2007) am Klavier; daneben dirigiert er Massenchöre und referiert „über den deutschen Faschismus, die Krise der modernen bürgerlichen Musik und die neuen Aufgaben der Arbeitermusikbewegung“. Neben Bertolt Brechts „Einheitsfrontlied“, das er ebenfalls während seines London-Aufenthalts vertont hat, ist das „Moorsoldatenlied“ bei seinen Auftritten immer mit im Programm. In der antifaschistischen und linken US-Kulturszene wird es so schnell populär. Beflügelt wird die Verbreitung durch eine schnelle Übersetzung der drei Strophen ins Englische, verfasst vom jüdischen Kommunisten und Autor Victor Jerome (1896-1965), auf dessen Text mit dem Titel „Peat Bog Soldiers“ fast alle Aufnahmen des Lieds aus dem angloamerikanischen Sprachraum, darunter die populären von Pete Seeger oder den Dubliners, bis heute zurückgehen.
Nicht minder rastlos geht die Reise des Lieds in Europa weiter. Aus den USA zurück präsentiert Eisler seine dreistrophige Liedversion zusammen mit Ernst Busch auf der „1. Internationalen Arbeiter-Musik- und Gesangs-Olympiade“, einer antifaschistischen Großveranstaltung, die vom 8. bis 10. Juni 1935 in Straßburg stattfindet. Busch zieht es danach in die Sowjetunion, wo er das Lied in Konzerten und im Radio singt. Mit ihm kommt es in Moskau im Januar 1936 zu einer ersten Plattenaufnahme. Aus dem Off zu hören ist sein Gesang außerdem im Spielfilm „Kämpfer“ von Gustav von Wangenheim (1895-1975). Die 1935/36 in der Sowjetunion entstandene Produktion ist eine künstlerische Reaktion von deutschen Exilierten auf den Reichstagsbrand. Groß in Szene gesetzt wird darin das couragierte Auftreten des (am Ende freigesprochenen) bulgarischen Kommunisten Georgi Dimitroff im Prozess zum Brand. Von Busch in kämpferischem Duktus vorgetragen, verstärkt das „Moorsoldatenlied“, genauer: die letzte Strophe, eine Filmszene, die die Entlassung eines Häftlings aus einem KZ zeigen. Am Ende singen die in der Baracke zurückbleibenden Kameraden alle mit; zu sehen sind Gesichter voller Zuversicht und Entschlossenheit. Komponist der Filmmusik ist Hans Hauska (1901-1965), der die Melodie des Lieds bereits in der Einleitungsszene orchestral anklingen lässt. Das „Moorsoldatenlied“ sei die „wunderbare authentische Dokumentation eines künstlerischen Willens, der auch in der Welt des Grauens und des Todes nicht zu brechen war“, erklärt er 1963 anlässlich der Ausstrahlung des Films im DDR-Fernsehen. [8]
Nach seinem Aufenthalt in der Sowjetunion zieht es Busch im Februar 1937 nach Spanien, wo seit Juli 1936 Bürgerkrieg herrscht. Zehntausende von Freiwilligen aus über 50 Ländern sind auf die Iberische Halbinsel gereist, um in Internationalen Brigaden die Republik gegen den von Franco eingeleiteten Staatsstreich zu verteidigen. Busch singt für sie und beginnt mit der Zusammenstellung eines Spanienliederbuchs. Seine „Canciones de las Brigadas Internacionales“ werden fortlaufend ergänzt. Sind es im ersten Liederbuch vom Frühjahr 1937 25 Lieder, enthält die fünfte Ausgabe vom Frühjahr 1938 mit 102 Liedern viermal so viele. [9]
Mit den Entlassungen von Häftlingen oder deren Verlegungen in andere Lager verlässt das Lied den Ort seiner Entstehung und verbreitet sich schnell auf verschiedenste Weise. Die Häftlinge haben es auswendig gelernt, manche von ihnen es in eindrucksvollen farbigen Liedblättern festgehalten, am bekanntesten ist heute sicherlich das des Künstlers Hanns Kralik (1900-1971). [4] Anfang 1935 erscheint im Schweizer Spiegel Verlag Wolfgang Langhoffs Buch „Die Moorsoldaten. 13 Monate Konzentrationslager“, das zunächst noch den weiteren Untertitel „Unpolitischer Tatsachenbericht“ trägt und in dem er, literarisch bearbeitet, die Entstehung des Lieds und den „Zirkus Konzentrazani“ ausführlich schildert. [5] Die Nachfrage ist so groß, dass der Verlag das Buch noch im selben Jahr mehrfach nachdrucken muss, bis 1936 liegen bereits etliche Übersetzungen vor, in den USA und Großbritannien etwa unter dem Titel „Rubber Truncheon“ mit einem Vorwort von Lion Feuchtwanger (1884-1958). [6]
Bereits davor hat das Lied in der Auslandspresse Verbreitung gefunden. Zusammen mit einem Artikel über Misshandlungen im KZ Börgermoor erscheinen am 11. November 1933 alle sechs Strophen der deutschen Textfassung plus Übersetzung ins Englische im „Manchester Guardian“. „De Tribune“, die Tageszeitung der niederländischen Kommunisten, druckt den Originaltext in ihrer Ausgabe vom 29. März 1934, die deutschsprachige Exilzeitschrift „Der Gegen-Angriff“ am 14. April 1934. In der saarländischen Tageszeitung „Deutsche Freiheit“ (das Saarland ist seinerzeit noch dem Völkerbund unterstellt) ist der komplette Liedtext am 4. Juni 1934 am Ende eines langen Beitrags über die Konzentrationslager Kemna und Börgermoor zu finden, in der „Arbeiter-Illustrierte-Zeitung“ (Prag) vom 8. März 1935 ist eines der aus dem KZ überlieferten Liedblätter abgebildet. All diese exemplarisch genannten Presseveröffentlichungen des Lieds haben eins gemeinsam: Es fehlen die Namen seiner Schöpfer.
Durch die Verlegungen von Häftlingen oder die erneute Verhaftung und Einweisung von zuvor entlassenen gelangt das Lied schnell auch in andere Lager des NS-Regimes. Ab 1936 kursiert es etwa im neu errichteten Konzentrationslager Sachsenhausen, bald auch in Buchenwald. 1944/45 singen es selbst deutsche Kriegsgefangene in den „Prisoner of War“-Camps der US-Armee, unter ihnen viele Antifaschisten, die als zwangsrekrutierte Soldaten in Einheiten des Bewährungsbataillons 999 in Nordafrika eingesetzt waren und das Lied oft Jahre zuvor in einem der NS-Lager kennengelernt hatten.
Im Exil, fernab von Stacheldraht und KZ-Terror, entwickelt sich das „Lagerlied von Börgermoor“ schon früh zu einem internationalen antifaschistischen Widerstandslied mit großer öffentlicher Resonanz. Anfang 1935 lernt es der emigrierte Komponist Hanns Eisler (1898-1962) in London kennen und bearbeitet die Melodie für den Sänger Ernst Busch (1900-1980), zugleich verändert er den Takt, übrig bleiben vom Originaltext drei Strophen. [7]
Eislers Version bestimmt sofort und das bis 1945 den Kurs der Verbreitung außerhalb Deutschlands. Im Februar 1935 reist er mit seiner Liedbearbeitung im Gepäck in die USA und präsentiert sie auf einer ausgedehnten, bis in den Mai dauernden Vortrags- und Konzertreise in seinen Programmen. Die Tournee geht zurück auf die Initiative des Internationalen Hilfskomitees für die Opfer des Faschismus, das, 1933 in Paris gegründet, in etlichen Ländern nationale Ableger hat.
Verbreitung bis 1945
Zum Autor
Fietje Ausländer arbeitete rund 30 Jahre als Historiker, Pädagoge und Archivar im Dokumentations- und Informationszentrum (DIZ) Emslandlager. In dieser Zeit hat er mehrere CD-Produktionen kuratiert, darunter die im Text erwähnte Edition zum „Lied der Moorsoldaten“. Aktuell kümmert er sich ehrenamtlich um den weiteren Ausbau der im DIZ-Archiv befindlichen Sammlungsbestände zum Lied.
Wer diese Arbeit unterstützen möchte, etwa mit Quellen- und Literaturhinweisen oder auch der Überlassung von Tonträgern und Liederheften, erreicht ihn über die Mailadresse des DIZ: mail@diz-emslandlager.de
Zum Weiterlesen
Fietje Ausländer: „Der schönste Tag seit 6 Monaten!“ Eine Hommage an das „Lied der Moorsoldaten“ aus Anlass seiner Premiere vor 90 Jahren. In: Moorsoldaten. Widerstand und Verfolgung von Arbeitern im Altkreis Moers. Herausgegeben von Ulrich Hecker und Bernhard Schmidt, Moers 2023, S. 41-75.
Zu den ersten Plattenaufnahmen des „Moorsoldatenlieds“ gehört die englische Version „Peat Bog Soldiers“ des afroamerikanischen Sängers und Schauspielers Paul Robeson aus dem Jahr 1942. Begleitet wurde er im Studio von seinem langjährigen musikalischen Partner Lawrence Brown am Klavier. Separat zur Aufnahme waren im US-amerikanischen Musikalienhandel die dazugehörigen Noten erhältlich. Abgebildet ist das Titelblatt der Partitur. Sie stammt vom jüdischen, in Böhmen geborenen Komponisten Felix Günther (1886-1951). Quelle: Archiv AK DIZ Emslandlager, Sammlung LdM.
Ausgehend von den Aufnahmen aus der eigenen großen Sammlung, ergänzt durch Liedmaterial aus dem Deutschen Rundfunkarchiv und weiteren Archiven, publizierte das DIZ 2002 eine ausführliche, breit rezipierte CD-Edition zur Geschichte des Lieds im 20. Jahrhundert. 2008 folgte eine Neuauflage. [11] Die künstlerische Auseinandersetzung mit dem KZ-Lied ging währenddessen und danach weltweit produktiv und engagiert weiter. Im Wissen darum gingen auch die Liedrecherchen im DIZ, das Sammeln und Archivieren weiter, noch einmal intensiviert seit 2022 im Hinblick auf den 27. August 2023, den 90. Jahrestag der Premiere des Lieds. Bis Anfang 2024 sind so, viele durch Schenkungen, mehr als 100 Aufnahmen neu dazugekommen, Einspielungen in den weiten musikalischen und interpretatorischen Spannungsfeldern, die das Lied heute anbietet. Zwischen deutsch- und fremdsprachigen Versionen, zwischen musikalischen Genres und Kanonisierungen, zwischen historischer Distanz und empathischer Annäherung, zwischen musikästhetischer Analyse und politischer Botschaft nötigt die diverse Klangfülle, die sich in den Aufnahmen präsentiert, zu dem Schluss, dass es die eine, allein legitime Re-Interpretation des Lieds nicht gibt, heute weniger denn je, auch wenn einzelne sicherlich herausragen. [12]
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[11] Das „Lied der Moorsoldaten“. Bearbeitungen, Nutzungen Nachwirkungen, 2-CD-Edition inklusive Beiheft.
Redaktion: Fietje Ausländer, Susanne Brandt und Guido Fackler. Herausgegeben vom DIZ Emslandlager in Kooperation mit der Stiftung Deutsches Rundfunkarchiv, 2., überarbeitete Auflage, Papenburg 2008.
[12] Schon in den Lagern wurde das Lied je nach Situation mal so, mal so gesungen, manchmal auch nur von einem Gefangenen gesummt. Und wer Ernst Buschs legendäre und würdevolle „Moorsoldaten“-Aufnahme aus Spanien hört, sollte immer bedenken, dass auch er bereits eine Bearbeitung des Lieds durch Hanns Eisler vorträgt, die mitnichten mit dem Anspruch entstanden ist, die ursprüngliche Entstehungs- und Singsituation möglichst „authentisch“ wiederzugeben.
In der Nachdichtung „Chant des Marais“ gehörte das „Moorsoldatenlied“ zu den Liedern der Résistance. Ihre gewichtige Rolle in der Gedenk- und Erinnerungskultur Frankreichs lässt sich u.a. an den zahllosen Schallplatten und CDs ablesen, auf denen sie zu finden ist, oft zusammen mit der Widerstandshymne „Chant des Partisans“ wie auf der abgebildeten Single der F.N.D.I.R.P. (Fédération Nationale des Déportés et Internés Résistants et Patriotes). Quelle: Archiv AK DIZ Emslandlager, Sammlung LdM.
Inzwischen sind in der Einrichtung Hunderte von Einspielungen des Lieds archiviert, darunter neben den Klassikern von Ernst Busch, Paul Robeson oder Pete Seeger Raritäten aus privater Hand, eine Vielzahl von Aufnahmen aus der ehemaligen DDR und der bundesdeutschen Folkbewegung sowie nicht zuletzt sehr viele internationale Aufnahmen. Insgesamt beinhaltet die Sammlung heute Interpretationen kreuz und quer durch alle Genres und Stile: Folk, Rock, Pop, Punk, Metal, elektronische Musik, Jazz und Avantgarde, vom Sologesang über verschiedenste Ensemblekonstellationen bis zum großen Orchester – alle nur denkbaren musikalischen Formationen sind vertreten. Neben den vielen physischen Tonträgern (Schellack- und Vinylplatten, Musikkassetten und CDs) gehören, wenig überraschend, auch Aufnahmen, die ausschließlich als Digitalisate vorliegen, längst zur Liedkollektion. Fach- und Erinnerungsliteratur, Liederhefte und Liederbücher, originale und reproduzierte Lied- und Notenblätter, Briefe von Gefangenen und andere Schriftquellen mit Bezügen zum Lied komplettieren den Bestand.
Nach 1945 ist das „Moorsoldatenlied“ in neue Auseinandersetzungen verwickelt. Sein neuer politischer und kultureller Ort wird bald die DDR. Busch, Langhoff und Eisler leben dort und ab 1952, nach seiner Übersiedlung aus der Bundesrepublik, auch Goguel. In der DDR wird das Lied Teil der nationalen Identität, indem ein antifaschistischer roter Faden von den NS-Konzentrationslagern über den kommunistischen Widerstand bis hin zur „realsozialistischen“ Gegenwart des zweiten deutschen Staates konstruiert wird. Es findet Eingang in unzählige Liederbücher und wird eigens für die Nutzung in der Schule, wo es zum Pflichtprogramm gehört, auf Schallplatten gepresst.
Der dem Lied in der DDR zugeschriebenen Bedeutung, inklusive mythischer Überhöhungen, stehen im Westen Deutschlands Unkenntnis und Nichtbeachtung bis hin zu seiner Denunzierung als kommunistisches Propagandalied des SED-Staates gegenüber. Außerhalb kultureller und politischer Aktivitäten von ehemals Verfolgten und der mit ihnen verbundenen antifaschistischen Milieus, z.B. auf einer großen Gedenkveranstaltung der „Moorsoldaten“ im Emsland 1956, ist es zunächst wenig präsent. Das ändert sich schrittweise mit dem Aufkommen einer bundesdeutschen Folkbewegung in den 1960er-Jahren, die altes Liedgut wiederentdeckt, vor allem aber mit den heftig geführten erinnerungskulturellen und geschichtspolitischen Auseinandersetzungen in den Jahrzehnten danach.
1985 wird in der nordwestdeutschen Stadt Papenburg das Dokumentations- und Informationszentrum Emslandlager eröffnet, eingerichtet und getragen von einem 1981 gegründeten zivilgesellschaftlichen Verein. Die neue Gedenkstätte, kurz DIZ genannt, die von Beginn an große Unterstützung aus den Reihen der damals noch lebenden ehemaligen „Moorsoldaten“ erfährt, wird vor Ort nicht gerade mit offenen Armen empfangen, schließlich verfolgt sie ein unmissverständliches Ansinnen: die Aufarbeitung und Vermittlung der vergessenen und verdrängten Geschichte der Moorlager in der Region, zu denen mit Börgermoor bis 1945 insgesamt 15 Standorte mit unterschiedlichen Funktionen und Zuständigkeiten gehört hatten.
Neben der Suche nach den baulichen Resten der abgerissenen Lager werden ehemalige Gefangene besucht, interviewt, ab 1989 dann auch zu großen gemeinsamen Treffen nach Papenburg eingeladen. Emsig werden schriftliche und gegenständliche Zeugnisse aus der Lagerzeit zusammengetragen, daneben Bücher publiziert, Bildungsangebote für Schulklassen entwickelt und Ausstellungen konzipiert. Aufgrund seiner hervorgehobenen Bedeutung und seiner großen internationalen Bekanntheit entwickelt sich das „Lied der Moorsoldaten“ mit den Jahren immer mehr zu einem Schwerpunkt der Sammlungsaktivitäten im DIZ.
Das Lied nach 1945 und heute
Überliefert ist das „Moorsoldatenlied“ in etlichen farbigen Liedblättern, die meisten betitelt mit der Refrain-Zeile „Wir sind die Moorsoldaten". Manche entstanden schon im KZ Börgermoor, andere kamen später hinzu. Das bekannteste, oft publizierte ist das abgebildete des Künstlers Hanns Kralik.
Quelle: Archiv AK DIZ Emslandlager, Sammlung LdM, Copyright: Ralf Zimmermann (Köln).
Im Januar 1935 erschien im Schweizer Spiegel Verlag (Zürich) die erste Auflage von Wolfgangs Langhoffs Buch „Die Moorsoldaten“. Schon bis 1936 wurde es vielfach übersetzt; abgebildet ist die schwedische Ausgabe. Langhoffs literarische Bearbeitung der Entstehungsumstände und Uraufführung des „Moorsoldatenlieds“ hatte jahrzehntelang einen nachhaltigen Einfluss auf die Erzählweisen darüber. Heute kann z.B. ergänzt werden, dass es bereits am 20. August 1933, eine Woche vor dem von ihm beschriebenen „Zirkus Konzentrazani“, eine ähnliche, etwas kleinere Veranstaltung im Lager gab. Bei Langhoff kommt sie nicht vor. Quelle: Archiv AK DIZ Emslandlager, Sammlung LdM.
Epilog
Mit der Uraufführung des „Lieds der Moorsoldaten“ im „Zirkus Konzentrazani“ am 27. August 1933 kam viel zusammen: der soziale Un-Ort der Premiere, die Dramaturgie der Veranstaltung mit dem Lied als Finale, die Gemeinsamkeit in den Erfahrungen der singenden und zuhörenden Kameraden, die einprägsame Melodie, der klug von der ersten bis zur sechsten Strophe kulminierende Textinhalt sowie schließlich und wesentlich der Anlass überhaupt und dessen Zwecksetzung. Es ist dieser besondere historische Augenblick in der Frühphase des NS-Regimes, ein kurzzeitiger Akt der kulturellen Selbstbehauptung im KZ, der die unvergleichliche Rezeptions- und Wirkungsgeschichte des Lieds in Gang gesetzt und maßgeblich mit dazu beigetragen hat, dass es bis heute die Menschen bewegt und beschäftigt. Es begegnet uns, wie beschrieben, in unzähligen Neueinspielungen, daneben als Thema von Unterrichtsprojekten oder Masterarbeiten, nicht zuletzt in Ausstellungen und als fester Programmpunkt von Gedenkveranstaltungen. Sehr, sehr spät hat es schließlich auch den Deutschen Bundestag erreicht, dort gesungen am 27. Januar 2016 vom RIAS Kammerchor zum „Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus“.
Trotz aller Vereinnahmungen, trotz seines Gebrauchs für verschiedenste politische und kulturelle Praxen - das „Lied der Moorsoldaten" verfügt offenbar über eine ihm innewohnende Resistenz, die seinen Substanzverlust verhindert. Es weigert sich beharrlich, nur noch als Museumsstück behandelt zu werden. Indem es in konkreter Sprache die Erfahrungen von Gefangenen dokumentiert, die Solidarität der Eingesperrten und Erniedrigten bekräftigt und die Hoffnung auf eine Überwindung ihrer Lage zum Ausdruck bringt, zugleich nicht als formelhafte Parteilosung daherkommt, transportiert es einen universellen und visionären Kern, der mehr als neun Jahrzehnte nach seiner Premiere im KZ immer wieder neu und immer wieder anders herausfordert.